Spiritualität jenseits der Religionen
26. Juni 2025

Reflexionen und Erfahrungen

von Gerhard Breidenstein


Es sieht so aus, als ob die großen Weltreligionen ihre historische Rolle ausgespielt hätten; zumindest ist ihre ehemalige Hauptrolle zu kleinen Nebenrollen geschrumpft. Ob das Stück nur ein Drama oder eine Tragödie war, können wir dahingestellt sein lassen. Wer hätte den Überblick und das Recht, eine Bilanz der positiven und der negativen Auswirkungen der Religionen zu erstellen? Und wozu wäre solch ein Urteil gut? Jedenfalls spielen die Religionen bei immer weniger Menschen eine lebensbestimmende Rolle; es dürfte sich nur noch um eine kleine Minderheit handeln. (Ich spreche dabei nur von der Situation in Mitteleuropa. In Afrika, Asien, Lateinamerika und offenbar auch noch in Nord-Amerika gilt diese pauschale Feststellung nicht.)

 

Spiritualität auch ohne Religion

Allerdings hat gleichzeitig mit dem Niedergang des Einflusses der großen Kirchen in unserer Gesellschaft ein Interesse an Spiritualität geradezu sprunghaft zugenommen. Das Wort ‚Spiritualität‘ soll hier nicht nur ein Ersatzbegriff sein für allzu belastete Worte wie ‚Frömmigkeit‘ oder ‚Religiosität‘. Was aber soll dies Schlagwort ‚Spiritualität‘ meinen? Seine diffuse Bedeutung und sein inzwischen inflationärer Gebrauch hängen damit zusammen, dass die spirituell Suchenden selbst meist nicht sagen können, was sie suchen – und zwar oft gerade außerhalb der traditionellen Religionen. Vermuten kann man, dass der massive Materialismus unserer gegenwärtigen Kultur die Ursache ist für diese Gegenbewegung, für die Suche nach einer nicht-materiellen und verlässlicheren Lebens-Orientierung. Ob dem ein menschliches Urbedürfnis zugrunde liegt oder ob alle Aufklärer im Recht sind, die eben dies bestreiten, können oder müssen wir ebenfalls offen lassen. Unbestreitbar aber ist, dass es ein Bedürfnis nach Spiritualität in unserer modernen Gesellschaft gibt, und zwar nach einer neuen Art von Spiritualität. Was ist dann mit einer ‚Spiritualität jenseits der Religionen‘ (verkürzt gesagt mit ‚transreligiöser Spiritualität‘) gemeint?

 

Mystik und der Abschied von Religion

Bei einer transreligiösen Spiritualität würde die bisherige religiöse Identität transzendiert oder transformiert. Als junger Mensch war ich ein frommer Christ; dann habe ich evangelische Theologie studiert, wobei bereits mein Glaube erheblich umgeformt wurde. Aber heute bin ich dabei, mich von Religion zu verabschieden. Gewiss sind Spiritualität und Mystik religiöse Phänomene. Aber mit ‚Religion‘ meine ich vor allem alles Religiöse, das in Dogmen, Schriften, Ritualen und Institutionen gebunden ist.

Dieser Abschied ergibt sich für mich daraus, dass ich auf dem Weg der Zen-Meditation, die ich seit über zwanzig Jahren mit anhaltender Intensität praktiziere, der Mystik begegnet bin. Zen ist ja die mystische Richtung in der Religion des Buddhismus. Und Mystik, die es in allen großen Religionen gibt, ist tendenziell religionskritisch und warnt vor allen Dogmen, Heiligen Schriften, Heiligenverehrungen u.ä. einschließlich der eigenen Herkunftsreligion. Eben deshalb wurden Mystiker und Mystikerinnen oft von ihren religiösen Autoritäten verfolgt. Das hat die jeweiligen mystischen Richtungen (z.B. im Christentum oder im Islam) immer wieder unterdrückt, aber nie gänzlich auslöschen können. In unserer Zeit nun erlebt die Mystik eine erstaunliche Renaissance, zum Teil innerhalb des Christentums, aber auch außerhalb der Kirchenmauern. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil sie eine Spiritualität jenseits der Religionen ermöglicht, eine Spiritualität ohne vernunftwidrige Dogmen, erstarrte Formen und ohne die erheblichen historischen Belastungen der Religionen. Unterstützt wird diese Renaissance auch von dem Umstand, dass Mystik besser als alle traditionellen Religionen mit dem nach-modernen, ganzheitlichen Weltbild vereinbar ist, wie es sich seit einigen Jahrzehnten von den Naturwissenschaften her entfaltet.


Ein Abschied von einer solchen Religion muss kein Bruch, sondern kann ein allmählicher Prozess sein; wahrscheinlich wird er auch nie total sein. Und er ist – was mich betrifft - mit Dankbarkeit verbunden gegenüber den bisherigen Religionen für all das Wertvolle, was sie durch Jahrtausende überliefert haben. Mein besonderer Dank gilt allerdings gerade den Mystikern und Mystikerinnen aller Kulturen und Epochen für ihren Mut und ihre innere Freiheit, ihre Religion in Frage zu stellen, um den Weg in die je eigene Erfahrung ‚der Wahrheit‘ freizulegen.


Von einer ‚Spiritualität jenseits der Religionen‘ zu sprechen hat auch den Sinn anzuerkennen, dass die meisten Mystiker und Mystikerinnen aus einer bestimmten Religion hervorgehen und von ihr geprägt bleiben, auch wenn sie diese transzendieren. So ist die Zen-Mystik eine andere als die Sufi-Mystik des Islam, eine christliche Mystik anders als die jüdische der Chassidim. Doch das jeweilige Transzendieren einer Religion relativiert sehr stark die trennenden Besonderheiten, während es die verblüffenden Gemeinsamkeiten der verschiedenen Mystiken deutlicher erkennen lässt. Insofern geht es bei einer ‚Spiritualität jenseits der Religionen‘ um mehr als einen interreligiösen Dialog, bei dem jede Seite bei sich bleibt. Und es ist auch mehr gemeint als ein multireligiöser Synkretismus, bei dem Elemente verschiedener Religionen vermischt werden. Es geht um die Entdeckung und Erkundung von Neuland jenseits aller Religionen. Oder in einem anderen Bild gesprochen: es geht um die Mitte zwischen allen Religionen. Diese Mitte zu suchen und zu kultivieren, ist gerade heute eine hochnotwendige Aufgabe, wenn die Menschheit untereinander und mit der Mitwelt in Frieden gelangen will.

 

Was könnte eine Spiritualität jenseits der Religionen glauben?

 

Ich zitiere hier meinen Versuch, mögliche Inhalte einer transreligiösen Spiritualität für unsere Zeit zu formulieren. Natürlich ist er weder vollständig noch beansprucht er Allgemeingültigkeit. Auch will dieser Entwurf nicht behaupten, seine Elemente gäbe es nicht auch innerhalb der heutigen Religionen, im Gegenteil zeigt er vielleicht, was beim Transzendieren erhalten bleiben kann. Was also könnte zu solcher Spiritualität gehören? 


· Die Überzeugung, dass alle belebten und unbelebten Seinsformen auf unserem Planeten Erde, also Menschen, Tiere, Pflanzen, Wasser, Luft und Mineralien, untereinander verbunden sind. Diese Einsicht wird mehr und mehr von den neuen, systemischen Naturwissenschaften unterstützt.

 

- Die Ahnung davon, dass dieses umfassende Lebensnetz von einer universellen, göttlichen Energie hervorgebracht wurde, durchdrungen ist und zusammengehalten wird und dass alles Sein zu immer größerer Komplexität und Schönheit entfaltet werden soll; dass es nur eine und zwar eine materiell-geistige Wirklichkeit gibt - um uns und in uns.


- Die Erfahrung, dass diese Wirklichkeit für uns nicht nur Licht und Klarheit, sondern auch Dunkelheit und Rätsel enthält, und dass es oft darum geht, das Nichtverstehen auszuhalten.

 

- Der Glaube, dass wir Menschen dazu befähigt und berufen sind, mit dieser göttlichen Energie in bewusste Verbindung zu treten, um von ihr inspiriert und transformiert und so auch ihr Instrument zu werden. Das berechtigt uns keineswegs zur Herrschaft über die Natur, motiviert uns vielmehr, dem Netz des Lebens unserem Wesen gemäß zu dienen wie Nervenzellen in einem Organismus.

 

- Die Gewissheit, dass Werte wie Ehrfurcht vor allem Leben, Dankbarkeit für das Leben, Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit, Versöhnungsbereitschaft, Mitgefühl, Toleranz und Achtsamkeit in allen Situationen unserem Handeln Motivation und Richtung geben können, um solcher Spiritualität zu entsprechen.

 

- Die Empfindung, dass Glück und Sinn gerade in Nicht-Materiellem wie Liebe, Freude, Zufriedenheit, Schönheit zu finden sind.

                                                   


 (aus der Broschüre „Anders besser leben – aber wie?“, S. 97; s. www.anders-besser-leben.de/Material)


Dr. Gerhard Breidenstein



Anmerkung des Netzwerk-Vorstands: Dieser Beitrag von Dr. G. Breidenstein stieß beim Netzwerk auf breite Zustimmung, weshalb wir ihn hier gerne aufgenommen haben; allerdings gab es auch Stimmen, die mit der Definition von „Religion“ in diesem Beitrag nicht ganz einverstanden waren, gäbe es doch noch andere legitime Definitionen von „Religion“. Wer mehr über die Überschneidungen und Differenzen von „Spiritualität“ und „Religiosität“ wissen möchte, mag sich nachfolgenden Fachartikel im Handbuch Erziehung zum Thema Spiritualität ansehen:

Spiritualität
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Gemäß dem vom Netzwerk Reform des Christentums verabschiedeten „Göttinger Manifest 2024“ gilt als Spezifikum des Christentums „die Orientierung an Jesu Lehre und Praxis des Reiches Gottes“. Jesus hat immer wieder vom Reich Gottes gepredigt und dieses in seinen Handlungen exemplifiziert. Doch was ist unter diesem „Reich Gottes“ zu verstehen? Einige Vertreter des Netzwerks haben sich am 12. September 2024 mit dieser Frage befasst und das folgende Statement dazu formuliert:
von Prof. Dr. Werner Zager 4. September 2024
Die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung "Wie hältst du's mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft" wird hier von Prof. Dr. Werner Zager vorgestellt – mit den wichtigsten Ergebnisse und den Konsequenzen, die aus einer liberalen Sicht daraus zu ziehen sind.