Was wollen wir?

Wir erleben seit einigen Jahrzehnten den größten Bedeutungsverlust des Christentums in seiner gesamten Geschichte. Dieser geht weit über nachlassenden Kirchenbesuch hinaus, der lediglich als ein besonders gut sichtbares Symptom gelten kann.
Im Privatbereich gilt das Christentum inzwischen als überholter Mythos, als skurrile, nicht nachvollziehbare Behauptungskultur. „Glaube“ wird weitgehend als Gegenteil von Wissen verstanden und mit illusionärem Trost und Persönlichkeitsschwäche assoziiert. Agnostizismus und Atheismus sind die Normalform der Lebensorientierung geworden. Religion ist für die allermeisten Menschen kein integraler Bestand des alltäglichen Lebens mehr. Religiöse und spirituelle Suchbewegungen nehmen kaum noch Bezug auf das Christentum.
Wir vom "Netzwerk Christsein heute" sind gleichwohl überzeugt vom tiefen Lebenswissen der christlichen Religion. Wir gehen davon aus, dass dieses Wissen für die Menschen der Moderne dringend gebraucht wird.
Die Kirche ist als Anwalt und Raum dieses Schatzes, vor allem aber als Ort der Kommunikation über die großen Fragen des Lebens, nicht ersetzbar und von kaum zu überschätzender Bedeutung. Hier wird eine oft hoch engagierte Arbeit geleistet. Mit größter Sorge betrachten wir deshalb den anhaltenden Bedeutungsverfall der Kirche.
Dringend notwendig ist vor allem anderen eine beherzte offene Diskussion über die Lage, ihre Hintergründe und die Aufgabe von Kirche und Theologie unter heutigen Lebensbedingungen.
Wir sehen Reformbedarf u.a. in folgenden Bereichen:
- Das derzeitige Christentum braucht dringend und vor allem anderen eine klare und spürbare Zuwendung zum Menschen und seiner Lebenswelt. Die Menschen sind nicht für die Kirche, sondern die Kirche ist für die Menschen da. Die Menschen müssen daher IHRE Themen und Fragen in der Kirche wiederfinden.
- Notwendig ist ein aufgeklärtes, modernitätsfähiges theologisches Denken, mit einem Schwerpunkt auf der subjektiven Erfahrung. Es geht auch um die Vermittlung von Erkenntnissen, die durch die historisch-kritische Exegese gewonnen wurden. Wichtig sind ferner ein mythologisches Verstehen, ein existenzielles Bewusstsein sowie ein Verständnis für die symbolische Bedeutung jeder religiösen und theologischen Sprache. Es bedarf schließlich neuer Gottesbilder und einer vorsichtigeren Sprache im Blick auf Gott.
- Dogmatische Fixierungen wie etwa die Sühnetod-Metaphysik, eine veraltete Trinitätslehre, eines zukünftigen Weltgerichts u.a. sind kritisch zu überprüfen und evtl. auch aufzugeben.
- Reformbedürftig sind eine erstarrte Frömmigkeitspraxis und ein bibelzentriertes Offenbarungsverständnis.
- Ein Ausweichen von Religion in Moral (Wächteramt der Kirche, Religion als Wertevermittler usw.) ist ebenso kritisch zu befragen wie juristische Engführungen (Schuld, Sühne, Erlösung, der gerechte Gott usw.).
- Grenzlinien zwischen Religionen und Konfessionen sind aufzubrechen. Die theologischen Richtungen müssen miteinander reden.
- Die Veränderung des liturgischen Kultus ist überfällig. Das alles geht jedoch nicht ohne Beteiligung der Menschen – nach dem urchristlichen Motto: „Sie teilten alles und waren beieinander im Gebet.“
Das Christentum steht an einer Wegscheide. Seine Zukunft wird sich daran entscheiden, ob es uns gelingt, das Leben und das religiöse Bedürfnis der Menschen heute zeitgemäß zu deuten, einfühlsam zu begleiten und sinnvoll zu gestalten.
Das Göttinger Manifest 2024
Bei seiner konstituierenden Sitzung im Januar 2024 hat das neu gegründete "Netzwerk Christsein heute" ein Manifest verabschiedet, das als Ausgangsbasis und Reformanstoß für weitere Reformbemühungen dienen soll.
Spezifikum des Christentums ist die Orientierung an Jesu Lehre und Leben, insbesondere an seiner Botschaft und Praxis der unbedingten Liebe und des Reiches Gottes, das schon jetzt unsere Lebenswirklichkeit bestimmen kann und soll. Das Reich Gottes ist der Horizont, vor dem wir unser Leben und unsere Welt gestalten wollen.